Deutsch-Französisches Institut
Arbeitsgemeinschaft, Elternvereinigung und Förderverein der Gymnasien mit zweisprachig deutsch-französischem Zug in Deutschland (LIBINGUA)

Straßburg, ich muß dich lassen

(…) Wie sie gegen drei Uhr im Piccadilly ihren Kaffee tranken, lachten neben ihnen Leute und erzählten von dem Spaß, den der Komiker Haniel an der Kehler Brücke mache. Er gebe es gründlich den Schwobe, die rüber müßten. Hanna sah Jakob an, flüsterte: »Ich möchte hin.«

Mit der Elektrischen fuhren sie hinaus, durch die Schwarzwaldstraße, vorbei am Proviantamt und an dem gewaltigen Komplex der Zitadelle und Esplanade, der Kasernen, zum Kehler Tor. Ein weites Gelände öffnete sich, Hafen und Industriebauten. (…)

Auf den Straßen wanderten zunehmend mehr Menschen. Der Straßenbahnschaffner lächelte: »Alle zur Brücke, der Haniel ist da.«

Man näherte sich dem Rhein. Eine wellige Fläche mit vertrocknetem Gras, wenig Bäume. Schon von weitem Geschrei und Johlen, das periodisch anschwoll.

Wie strahlend war der Einzug der Truppen am Hohen Steg und in der Stadt gewesen, der Ritt der Offiziere durch die geschmückten Straßen, von Jubelrufen umbraust, Reiter mit geschwungenem Säbel, finstere Infanteristen mit Stahlhelmen, die Mäntel über den Knien zurückgeschlagen, schwer schlagende Stiefel, das Rollen der Geschütze, in der Luft das Dröhnen der Flugzeuge.

Hier zog der alte Rheinstrom, breit und flach. Sein Wasser offen. Zwei starke Brücken verbanden die Ufer, der Weg herüber war nicht weit. Aber jetzt sah man den Eingang zur Fußgängerbrücke nicht. Die ganze Zugangstraße war von einer Menschenmasse belagert, die sich besonders in der Nähe der Brücke schwarz ballte. Mühsam wurde ein enges Spalier aufrechterhalten, um einen Durchgang zu schaffen. In der Gasse sah man ein paar Menschen sich bewegen. Es waren die Altdeutschen, die man austrieb, und die zu Fuß nach Kehl gingen.

Hanna drängte vor. Sie gerieten in den Tumult am Anfang der Chaussee. Es war ein regelrechtes Volksfest mit vielen Kindern und Halbwüchsigen. Händler mit französischen Fähnchen und Kokarden gingen herum. Man warf gelegentlich welche einem Vertriebenen auf sein Gepäck oder sogar auf die Brücke nach, die Fähnchen schwammen nachher im Rhein. Man verkaufte Süßigkeiten, heiße Würstchen. Flugblätter und Bilder wurden verteilt. (…)

In der schmalen Gasse gingen die Vertriebenen.
Es hatten viele geglaubt, sich verstecken oder auf die Milde des Siegers rechnen zu können. Aber wenn der Sieger milde war, der eigene Nachbar war es nicht. Da wanderten sie nun Tag um Tag, seit dem ersten Einzug der Truppen, und mit jedem Tag mehr. Denn die Rachsucht spürte immer mehr auf. Der Neid, die Bosheit bekam Luft, die Seuche der Denunzierungen grassierte. Man konnte sich an dem Freund von gestern auslassen. Man konnte ihn mühelos beerben. Es wurde ein Volksgericht und eine Erniedrigung des Volkes. An den Laternen, an den kahlen Bäumen, klammerten sich Leute und schrien den Abwanderern Hohnworte nach. (…)

Sie hatten sich vom Morgen bis zum Mittag bereitzumachen. Wie die geschlagene Armee auf ihrem Rückzug alles liegenlassen mußte, was sie nicht tragen und nicht rasch tragen konnte, so mußten die Ausgewiesenen ihren festen Besitz, wie groß er auch war und worin er bestand, lassen und durften nur mitnehmen, was sie im Bündel, Koffer und Sack tragen konnten. Und es durfte ein bestimmtes Gewicht nicht überschreiten.

Da ging ein Professor. Das Hohngelächter der Masse folgte ihm. Warum? Der alte Mann trug nichts als fünf Regenschirme und eine kleine Aktenmappe. Was er sonst transportieren sollte, wußte er nicht. Andere trotteten schwerfällig mit Frau und Kindern. Jeder schleppte etwas, die Männer öfter Säcke. Bei manchen schwieg die Masse. Man wußte nicht, wer es war. Es gingen nicht alle zu Fuß, manche nahmen die Eisenbahn und wurden an der andern Brücke abgefertigt.

Jenseits des strömenden Wassers, auf der Kehler Seite, empfing sie eine kleine stille Menge und sah ihnen entgegen. Schwestern versahen einen Verpflegungsdienst. (…)

Hanna gelang es, um die Menge herumzukommen, sie drängte nach dem Rheinufer, Jakob folgte. Sie wanderten langsam den schmalen Uferweg entlang, der dicht mit Menschen besetzt war. Manche beobachteten mit Fernstechern die andere Seite, wie man da die Vertriebenen aufnahm und geleitete, verfolgten mit Neugier, Schaulust wie im Zirkus, voll Schadenfreude, wie sie da drüben stumm und geduckt in den Baracken mit den roten Fahnen verschwanden. (…)

Die Textpassage ist entnommen aus [Döblin 2013, 399 - 403]