Von unserer Redaktion
Bonn/Stuttgart/Wyhl. Das Veto der französischen Regierung gegen den Bau eines Bleichemiewerks in Marckolsheim ist im Bonner Auswärtigen Amt „mit Genugtuung" registriert worden. Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen begrüßten am Mittwoch die Entscheidung. Der Freiburger CDU- Abgeordnete Evers sieht nach dem französischen Entscheid „kaum noch eine Möglichkeit", das Kernkraftwerksprojekt in Wyhl zu realisieren. Den Gegnern des Kernkraftwerks in Wyhl gab die Entscheidung deutlichen Auftrieb. Die Fraktionen in Stuttgart bereiteten die heutige Sondersitzung des Landtags zum Thema Wyhl vor.
Evers nannte den Beschluß des französischen Ministers für industrielle Ausrüstung einen „erstaunlichen und begrüßenswerten" Entscheid. Wörtlich sagte er: „Übertragen auf Wykl bedeutet das jedoch, daß es kaum noch eine Möglichkeit gibt, das Projekt zu realisieren." Diese Auffassung begründete Evers damit, daß nach dem französischen Entscheid die protestierenden Umweltschützer „ungeheuren Auftrieb" erhielten. Er hält es für möglich, daß die Gegner des Kernkraftwerkes vor Gericht durch mehrere Instanzen gehen. Evers kritisierte die CDU-Landesregierung, sie habe in Wyhl „zu früh den Startschuß" gegeben.
Der Freiburger SPD-Abgeordnete Böhme begrüßte die Entscheidung, meinte aber, das Votum gegen Marckolsheim dürfe nicht als „Gegengeschäft" zu Wyhl verstanden werden. Der Freiburger FDP-Abgeordnete Vohrer sieht in der französischen Entscheidung eine Ermutigung, sich weiterhin entschlossen für den Umweltschutz einzusetzen. Anders als in, Marckolsheim sei jedoch in Wyhl eine Volksabstimmung mit positivem Ergebnis vorausgegangen. Ein geschlossenes Eintreten der Bevölkerung aber erleichtere dem Politiker die Solidarisierung.
Der Emmendinger CDU-Abgeordnete Burger äußerte seine „allergrößte Zufriedenheit". Die Umweltschäden eines Bleichemiewerkes seien, anders als beim Kernkraftwerk in Wyhl, eindeutig beweisbar gewesen. Burger wies darauf hin, daß weiter auf französischer Seite 65 Quadratkilometer Industriegelände ausgewiesen seien, von denen bisher nur 18 Quadratkilometer belegt seien. Burger drang deshalb auf eine grenzüberschreitende Raumordnungsplanung.
Auch die Landesregierung begrüßte die Entscheidung des Nachbarlandes. Sie erwartet jedoch durch diesen Beschluß positive Auswirkungen für den Bau des Kernkraftwerks, da Proteste gegen die gleichzeitige Errichtung beider Werke hinfällig seien.
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Landesregierung und CDU-Landtagsfraktion über das Vorgehen in Wyhl prallten am Vorabend der Landtagsdebatte bei einer Aussprache in Geislingen heftig aufeinander. Der Fraktionsvorstand beklagte sich bitter bei Ministerpräsident Filbinger, daß die Regierungsentscheidung über den vorläufigen Baustopp in Wyhl ohne Rücksprache mit der Fraktion zustande gekommen sei. Fraktionsvorsitzender Späth meinte, die Fraktion sei ursprünglich für ein nachsichtigeres Vorgehen der Regierung gewesen. Nach dem massiven Polizeieinsatz hätte man aber keinen Rückzieher machen dürfen.
Massiv kritisiert wurde auch, daß die Regierung die aufgebrachten „Umweltschützer“ mit linksgesteuerten Kräften in einen Topf geworfen habe. Die Fraktion bezweifelt die Wirksamkeit einer Aufklärungskampagne und befürchtet, daß auch nach der Gerichtsentscheidung die Auseinandersetzung nicht aufhören werde.
Die SPD-Fraktion wird einen Antrag einbringen, in dem die Landesregierung aufgefordert wird, den Bau des Kraftwerks nicht zu erzwingen, ehe das Verwaltungsgericht Freiburg entschieden hat. Darüber hinaus soll sie eine Aufklärungsaktion über Gefahren im Zusammenhang mit Kernkraftwerken starten.
Zu der Sondersitzung des Parlaments wollen mindestens 50 Kaiserstühler Winzer nach Stuttgart fahren. Die Landtagssitzung wird in Funk und Fernsehen direkt übertragen.
Die Bundesregierung erklärte auf eine Anfrage der südbadischen Abgeordneten Schäuble, Hauser, Evers und Häfele, sie sei lediglich für das Genehmigungsverfahren nach dem Atomrecht zuständig. Gegen den Standort des Kernkraftwerkes Wyhl habe es aus nukleartechnischen Gründen keine Bedenken gegeben. Es sei der Bundesregierung jedoch unbenommen, „unter raumordnerischen oder gesamtökologischen Aspekten" Stellung zu nehmen.
Die Bundesregierung wies den Vorwurf zurück, Staatssekretär Hauff (Abgeordneter aus Stuttgart) habe die Standortvorsorgeplanung des Landes kritisiert. Gegenstand seiner Kritik sei vielmehr das Verhalten der Landesregierung gewesen. In Übereinstimmung mit Landtagsabgeordneten aller, Parteien habe Hauff bemängelt, daß der CDU-Fraktionsvorsitzende den Kabinettsbeschluß der Landesregierung .zum Kraftwerksbau in Wyhl aus einer Zeitungsanzeige erfahren habe, die zuständigen Landtagsausschüsse keine Möglichkeit zur vorherigen Stellungnahme erhalten hätten und der Bürgermeister von Wyhl von der Entscheidung erst in der Nacht telefonisch unterrichtet worden sei. Die Bundesregierung bescheinigt Hauff, er habe „an Ort und Stelle" zu einem „klärenden Dialog" mit der Bevölkerung beigetragen.
Veröffentlicht in der Badischen Zeitung am 27.02.1975.
Wenn neben der Anti-AKW-Bewegung auch auf die Diskussion über die Raumordnung am Oberrhein in den späten 1970er Jahren eingegangen werden soll, eignet sich zusätzlich folgende zeitgenössische Quelle:
Kurt Becker-Marx/Werner Fricke (Hrsg.), Stand der grenzüberschreitenden Raumordnung am Oberrhein. Kolloquium zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Praktikern über Sach- und Organisationsprobleme bei der Einrichtung einer grenzüberschreitenden Raumordnung im Oberrheingebiet […], Selbstverlag des Geographischen Instituts der Universität Heidelberg 1981.
Die Publikation spiegelt die damalige Diskussion, in der Möglichkeiten grenzüberschreitender Zusammenarbeit ausgelotet wurden. Die Beiträge beinhalten kontroverse Meinungen und erlauben Aussagen zu Akteuren über die lokalen und regionalen Bürgerinitiativen hinaus, d.h. zum Beispiel auch zu Regierungskommission, EU-Parlament und Wissenschaft. Es würden sich Ausschnitte aus folgenden Beiträgen eignen (deutlich kontrovers sind Müller und Becker-Marx):